Oberschlesien ist wie Fußball

Wilimowskis Wechsel von 1. FC Kattowitz zum Ruch Wielkie Hajduki und später von der polnischen zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft war nie als eine nationale oder ideologische Parteinahme für eine der beiden Seiten gedacht, wurde aber immer so gedeutet: als ein Wechsel zum „Lager der Gegenspieler“. Es wurde als ein klarer Akt des „Landesverrats“ verstanden, auch wenn der geniale Kicker sich aus allen Debatten über deutsch-polnische Spannungen und Konflikte vorsichtig heraushielt. Dass Wilimowski von oberschlesischen Fußballfans in Polen wieder neu entdeckt und insbesondere im Jahr 2016 erinnert wird, können viele Polen immer noch nicht wirklich nachvollziehen.

Diese Art von Unverständnis wirkt bis heute nach: Dürfen die aus Oberschlesien stammenden Spieler Miroslav Klose und Lukas Podolski jubeln, wenn sie gegen Polen ein Tor schießen? Auf den ersten Blick scheint die Frage absurd. Doch sie wurde ernsthaft in polnischen und deutschen Medien erörtert. In Oberschlesien selbst geht man mit dem Thema gelassener um, denn die regionale Fußballgeschichte eröffnet Chancen, sich unter Wahrung seiner kulturellen Vielfalt zugleich gesellschaftlich neu zu denken.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Region zum zweitwichtigsten deutschen Industriegebiet, weil unter der Erde schwarzes Gold zu finden war – Kohle. Nach dem Ersten Weltkrieg zerrissen nationale Ansprüche seitens Polens, der Tschechoslowakei und Deutschlands die Industrieregion in drei Teile. Der Zweite Weltkrieg brachte über alle hier lebenden Bevölkerungsgruppen ein ausgesprochen nie dagewesenes Leid. 1939 und 1945 folgten Grenzverschiebungen, Flucht und Vertreibungen. Im von Kommunisten regierten Polen wurde Oberschlesien zum ökologischen Katastrophengebiet. Es war so verseucht, dass 4,6 Millionen Menschen, die hier lebten, eigentlich hätten evakuiert werden müssen. Der Zusammenbruch des Kommunismus brachte Freiheit, aber auch tiefe soziale Einschnitte mit sich. Bergbau und Stahlindustrie gerieten in eine tiefe Krise. Der Verlust von Arbeitsplätzen bedeutete den Untergang eines durch die Montanindustrie geprägten Lebensstils und eines eigenen sozialen Gemeinschaftslebens. Wenn auch noch die Fußballbegeisterung verblieb und emotional an die Region band, konnte doch auch sie nicht hinwegtäuschen über den zwingend notwendigen Strukturwandel. Oberschlesien, ein Flickenteppich „schwebender“ Identitäten und Doppelidentitäten, ließ damals viele nichts Gutes ahnen. Auch heute noch fällt es manchen Politikern allzu leicht, dieser Region vermeintliche „mangelnde Loyalität gegenüber dem Nationalstaat“ sowie das Streben nach autonomer Selbständigkeit anzukreiden. Kurzum, ein „trojanisches Pferd“ des Nachbarlandes zu sein. So machte vor der letzten Wahlkampagne die Aussage eines rechtskonservativen Politikers die Runde, die Behauptung, es gebe eine oberschlesische Identität, sei im Grunde genommen eine ‚verkappte deutsche Option‘.

Solche Reaktionen kommen vor allem deshalb vor, weil die frühere Grenzlage dieser Region bis heute stark nachwirkt. Besonders seit 1989 entwickelt sich hier immer stärkeres Regionalbewusstsein mit diversen Identitätsangeboten. Dass die vielfältige Geschichte und Kultur der Region intensiv aufgearbeitet wird, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Solche Vorgänge werden nicht nur von der deutschen Minderheit oder regionalpolitischen Kräften wie der Oberschlesischen Autonomiebewegung (RAŚ) getragen, sondern auch von Teilen der wissenschaftlichen und kulturellen Elite der Region.

Ohne Zweifel gibt es also ein starkes regionales Bewusstsein, das sich auch sprachlich im regionalen Dialekt (das auch Angehörige der deutschen Minderheit fließend sprechen) artikuliert. All diese oberschlesischen Besonderheiten, die sich nicht zuletzt im Fußball manifestieren, werden manchmal von nationalbewussten Polen als Separatismus interpretiert. Oberschlesier, insbesondere auch diejenigen, die sich klar zur deutschen Minderheit bekennen, halten dagegen. Der Verdacht, das einst umkämpfte Land wolle erst Autonomie und dann wieder zu Deutschland gehören, sei aus der Luft gegriffen. Man wolle keine Tore nur für sich selbst erzielen, sondern im zentralistisch regierten Polen mehr regionale Selbstbestimmung erlangen. Denn die Gesellschaft funktioniere wie eine Fußballmannschaft – es komme nicht nur auf Leistungsdruck an. Wichtig seien auch ein guter Team-Geist, gegenseitiges Vertrauen und die Freiheit, seine Stärken dort einzusetzen, wo man sie am besten aufgehoben glaubt. Solche Bekundungen wirken für polnische Eliten, vor allem außerhalb der Region, immer noch wie Glaubenssätze gegen die Vernunft. So ist es bis heute nicht wirklich gelungen, diese „problematische“ Region dem kollektiven Bewusstsein der Polen entscheidend näherbringen.

Diese Region braucht deshalb Fußball wie Luft zum Atmen, auch um einstige, aber bis heute fortwirkende nationale Gegensätze zu überwölben. Man möchte ein neues Image für sie stiften. Mit den Ideen zur Industriekultur und zum gemeinsamen Kulturerbe, das verbindet und nicht trennt, steht man am Anfang eines spannenden Weges. Für diesen Prozess ist eine positive Identifikation mit der Region die erste Voraussetzung. Fußball könnte als Teil des Kulturerbes eine solche regionale Identität stärken und nationales Denken zu überwinden helfen. Er kann zwar trennen, führt aber auch zusammen, was zusammengehört. So die gemeinsame deutsch-polnische Geschichte, die hier verschmilzt. Fußballer, die dieses Phänomen widerspiegelten, waren in der Volksrepublik Polen weitgehend tabuisiert. Das Oberschlesische, das seine vielschichtige Identität aus slawischen und deutschen Elementen speiste, musste über viereinhalb Jahrzehnte lang im Untergrund bleiben, um nur von Zeit zur Zeit auf sich aufmerksam zu machen. Als 1954 im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft die (west)deutsche Nationalelf mit den favorisierten Ungarn um den Sieg rang, hat das ganze Zaborze (deutsch geprägter Stadtteil von Zabrze, dem einstigen Hindenburg) an den Radioempfängern mitgefiebert, um nach dem Abpfiff in wahrhaftig lateinamerikanischer Manier den Sieg der „Unseren“ zu feiern. Hätte damals die polnische Nationalmannschaft die Ungarn bezwungen, hätte man in diesem Stadtteil wohl genauso gefeiert. Schließlich haben auch oberschlesische Kicker für beide Nationalmannschaften gespielt.

Aber selbst heute noch fällt es vielen Polen nicht leicht zu verstehen, warum die Menschen in Oberschlesien mal für Polen, mal für Deutschland jubeln. Nicht zufällig erzählt man sich, dass bei einem direkten Aufeinandertreffen Oberschlesier eine Kerze für die Heilige Anna vom St. Annaberg anzünden, damit es unentschieden ausgehen möge. Geht es anders aus, so ist es halb so schlimm. Man sei zuletzt immer ein Gewinner und feiert eben die oberschlesischen Jungs in beiden Teams – gemäß dem Motto: „Egal, wie es heute ausgeht, Oberschlesien geht sowieso nicht unter.“

Das Phänomen des oberschlesischen Fußballs lebt fort. Die in Gliwice (Gleiwitz) geborenen Spieler Sebastian Boenisch, Lukas Podolski und Adam Matuschyk, Kamil Glik (in seinem deutschen Pass steht der Name ‚Glück‘), Łukasz Piszczek, Artur Sobiech oder Eugen Polanski und nicht zuletzt der deutsche Ex-Nationalspieler und WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose aus Opole (Oppeln) agieren für die eine oder andere Nationalmannschaft. Sie alle symbolisieren Schicksale von europäischen Grenzgängern. Ihre Biographien könnten helfen zu verstehen, warum etwa im heutigen Gleiwitzer Stadtteil Sośnica (Sosnitza) Jugendliche mit einem deutschen Podolski-Trikot auf der Straße kicken – und gar keinen Begriff davon haben, dass er einer anderen Fußballnation angehört, weil er für sie einfach ein Oberschlesier ist. Das kann man auch als wichtiges Zeichen für eine europäische Zukunft werten, in der die eigene Herkunft, die der Eltern oder Groß- und Urgroßeltern nicht mehr die entscheidende Rolle spielt.

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